Arbeitskreis Psychiatriegeschichte Baden-Württemberg. Jahrestagung 2021

Arbeitskreis Psychiatriegeschichte Baden-Württemberg. Jahrestagung 2021

Organisatoren
Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, zugleich Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm
Ort
Emmendingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.09.2021 - 16.09.2021
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Von
Katharina Witner / Bernd Reichelt / Thomas Müller, Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin, Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, zugleich Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm

Die gastgebenden Einrichtungen des ZfP Emmendingen und des Psychiatrie-Museums Emmendingen waren durch Stephan Schieting, den Ärztlichen Direktor des ZfP, sowie durch Mehdi Rashid, den Vorsitzenden des Fördervereins Psychiatrie-Museum Emmendingen e.V., vertreten, die die Tagung und das Rahmenprogramm zusammen mit dem Forschungsbereich für Geschichte und Ethik der Medizin am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm in Ravensburg1 geplant und umgesetzt hatten. Zum Programm gehörten mehrere Exkursionen: Traditionsgemäß ein – in Emmendingen vom langjährigen Mentor der Hausgeschichte, Martin Zahn (Emmendingen), – geführter Psychiatriehistorischer Spaziergang über das Klinikgelände der ehemaligen Heilanstalt, die historisch in vielerlei Hinsicht ein besonderes Verhältnis zur Freiburger Universitätspsychiatrie aufwies2, sowie eine durch Mehdi Rashid (Emmendingen) geführte Besichtigung des 2020 neu eröffneten Psychiatriemuseums.3 Die Gastgeber organisierten am Vortag und außerhalb des Programms eine Führung durch das Jüdische Museum Emmendingen.4

In ihrer Einführung stellten THOMAS MÜLLER, UTA KANIS-SEYFRIED und BERND REICHELT (alle Ravensburg) seitens des organisierenden Ravensburger Forschungsbereichs und des Württembergischen Psychiatriemuseums aktuelle Publikationen, Ausstellungen und Forschungsprojekte zur Psychiatriegeschichte Baden-Württembergs vor. Dazu gehörten Publikationen zum Thema der Psychiatrischen Hilfsvereine5, zur internationalen Geschichte psychoanalytischer Organisationen6 sowie in Vorbereitung befindliche, durch mehrere Arbeitskreismitglieder bereicherte Publikationen zur Geschichte der südwestdeutschen Psychiatrie (und angrenzender Gebiete) während des Nationalsozialismus.7 Informationen zu neuen Installationen, Ausstellungen und Objekten, auch zum Internationalen Museumstag 2021, wurden von dem Psychiatriemuseum „MuSeele“ Christophsbad in Göppingen, von dem örtlichen Museum sowie von dem Württembergischen Psychiatriemuseum in Zwiefalten beigetragen. Wander- und Wechselausstellungs-Initiativen wie auch Tagungen kamen im Berichtszeitraum seit 2019 durch vielfältige Kooperationen zustande, so durch Mitwirkung bei psychiatriehistorisch relevanten Ausstellungen seitens des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm8, des Museums zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim9, der Gesellschaft Oberschwaben e.V.10 sowie der eingangs genannten Psychiatriemuseen in Göppingen11 und Zwiefalten.12

Ein neues Forschungsprojekt stellte UTA KANIS-SEYFRIED in ihrem Vortrag vor. Erste Recherchen weisen auf eine Erweiterung bisheriger Forschungsergebnisse über das im Zweiten Weltkrieg im oberschwäbischen Liebenau bei Meckenbeuren installierte Internierungslager (ILAG V) und die dort festgehaltenen und als sogenannte Austauschgeiseln verwendeten zivilen Ausländer:innen hin. In diesem Forschungsvorhaben sollen neben der Erarbeitung verschiedener Gefangenenbiografien vor allem Untersuchungen in den Bereichen Verwaltung, Unterbringung, Ernährung und Gestaltung des Alltagslebens neue Erkenntnisse hinsichtlich der Bedingungen, unter denen die Gefangenschaft bzw. der Austausch der Menschen ablief, generieren. Anlass, die Forschungen über das Lager und seine Insassen aufzunehmen, war ein Koffer, der in den 1940er-Jahren einer damals in Biberach tätigen Ärztin anvertraut worden war und seither in deren Familie zur Abholung durch die ursprünglichen Eigentümerinnen bereitsteht. Aufgrund seines Inhalts – mehrere Kunstbücher sowie einige von Hand beschriebene Schulhefte in norwegischer Sprache – war man zunächst davon ausgegangen, dass die namentlich gekennzeichneten Gegenstände aus dem Besitz norwegischer Staatsangehöriger stammten. Diese Annahme musste nach ersten eingehenden Prüfungen revidiert werden. Bücher und Hefte konnten zwei Amerikanerinnen zugeordnet werden, die sich gerade in Oslo aufhielten, als die deutsche Wehrmacht einmarschierte und alle zivilen Ausländer:innen nach Deutschland, u.a. Liebenau verschleppte. In eigens eingerichteten Internierungslagern mussten die darin festgehaltenen Menschen warten, bis sie gegen im „feindlichen Ausland“ internierte Reichsdeutsche „ausgetauscht“ werden konnten. Während über das Internierungslager selbst sowie die Eigentümerin der Schreibhefte schon verschiedene Ergebnisse beziehungsweise biografische Daten zusammengetragen werden konnten, stehen vergleichbare Ergebnisse über die Besitzerin der Kunstbücher noch aus.

BERND REICHELT und THOMAS MÜLLER berichteten in ihrem Vortrag von jüdischen Psychiatriepatient:innen, die in Württemberg wie anderswo bekanntermaßen doppelt stigmatisiert waren: Sie waren jüdisch und „geisteskrank“. Sie litten unter der NS-Erbgesundheitspolitik ebenso wie unter der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. 1939 wurden sie aus der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen. Die Vortragenden fokussierten auf die württembergische Heilanstalt Zwiefalten, die 1939 zu einer Sammeleinrichtung für jüdische Psychiatriepatient:innen in Württemberg bestimmt worden war. Die überwiegende Zahl der Menschen, deren Schicksal von den Vortragenden recherchiert worden war, wurde Opfer der „Aktion T4“, der zentralen NS-„Euthanasie“. Später und nach 1940 in Zwiefalten aufgenommene jüdische Patient:innen wurden Opfer der Shoah oder starben vor Ort in der Heilanstalt. Neben einem einführenden Bericht zur Geschichte jüdischen Lebens im südlichen Württemberg wurden stellvertretend die Schicksale zweier jüdischer Patienten ausführlicher dargestellt. Bezüge zum sogenannten Grafeneck-Prozess von 1949 wurden ebenfalls hergestellt.

Gegenstand des Vortrags von ULRIKE WEYRETHER (Ludwigshafen) war der im Rahmen einer akademischen Qualifikationsarbeit an der Technischen Universität Dresden angebundene Vortrag. Nach umfangreichen Recherchen in Archiven, mithilfe der Abgangsbücher und Patientenkartei-Karten werden hier die nach §§ 42b/c Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) verurteilten Patient:innen der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen untersucht. Ziel ist, deren Leben und Schicksal im Zeitraum von 1933 bis 1945 abzubilden. Hilfreich bei der Herausarbeitung der dafür geeigneten Faktoren waren zwei Erhebungen, die sich beide auf die bis 1938 gemachten Erfahrungen mit der Verwahrung dieser Klientel beziehen. Anlässlich ihrer Jahresversammlung in Köln versandte zum einen die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Anfang Juni 1938 einen Fragebogen an die psychiatrischen Anstalten. Zum anderen erreichte die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen im gleichen Jahr das Ersuchen, Details zur beschriebenen Patientengruppe zusammenzutragen und diese dem Generalstaatsanwalt in Karlsruhe zukommen zu lassen, da dieser dem Reichsminister für Justiz einen Bericht vorzulegen hatte. Daneben ließen sich anhand des „Schlechtpunktesystems“ von Robert Schiedt (geb. 1911) zur Rückfallwahrscheinlichkeit – als erste deutsche Prognosetafel herausgearbeitet im Jahre 1936 – und den „Gutpunkten“ von Edgar Kohnle (geb. 1913) patientenrelevante Merkmalskategorien entwickeln. Hierzu zählen unter anderem der Beginn delinquenten Verhaltens, der Schulerfolg, die (abgebrochene) Ausbildung, die Ausübung eines Berufes, das Kindheitsmilieu, die Lern- und Leistungsfähigkeit, das strafrechtliche Vorleben, ein unangepasstes Sozialverhalten während vorheriger Therapieversuche, die familiär bedingten Vorbelastungen. Aber auch die Frage, welche Privilegien sich die einzelnen Kranken erarbeiten konnten, welche Freiräume und Belohnungen ihnen gewährt wurden, und womit man sie beschäftigt hatte, auch ob Sie in den Zusammenhang mit Zwangssterilisationen gelangt waren, waren im Rahmen der Untersuchung relevant. Die Verlegung von Patient:innen, deren Handhabe und Erfüllung waren ebenfalls von Interesse.

Im Anschluss an eine Führung durch das Psychiatrie-Museum Emmendingen durch MEHDI RASHID rundete eine kurze Abschlussdiskussion die Tagung ab. Die Jahrestagung 2022 wird voraussichtlich in der Gedenkstätte – Dokumentationszentrum Grafeneck bei Münsingen stattfinden.

Konferenzübersicht:

Stephan Schieting (Emmendingen): Begrüßung

Mehdi Rashid (Emmendingen): Begrüßung

Thomas Müller, Uta Kanis-Seyfried und Bernd Reichelt (Ravensburg): Einführung. Aktuelle Publikationen, Ausstellungen und Forschungsprojekte zur Psychiatriegeschichte Baden-Württembergs

Diskussionsrunde I

Uta Kanis-Seyfried (Ravensburg): Ein Koffer – aus Norwegen? „Austauschgeiseln“ im NS-Lager Liebenau / Meckenbeuren

Bernd Reichelt und Thomas Müller (Ravensburg): Die Verfolgung und Ermordung jüdischer Patientinnen und Patienten der Heilanstalt Zwiefalten währendes Nationalsozialismus

Martin Zahn (Emmendingen): Historischer Spaziergang durch das Klinikgelände des Zentrums für Psychiatrie Emmendingen

Ulrike Weyrether (Ludwigshafen): Forensische Psychiatrie in der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen 1933–1945

Mehdi Rashid: Besuch des Psychiatriemuseums im ZfP Emmendingen

Diskussionsrunde II / Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1http://www.forschung-bw.de/history.html
2 Livia Prüll, Zentrum und Peripherie in der Badischen Psychiatrie. Zur Geschichte der Kliniken Freiburg und Emmendingen, ca. 1850–1945, in: Thomas Müller (Hrsg.), Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie. Regionale, nationale und internationale Perspektiven (=Reihe Kulturanamnesen, Bd. 9), Stuttgart, 2017, S. 67-84.
3https://www.zfp-emmendingen.de/psychiatriemuseum
4http://www.juedisches-museum-emmendingen.de
5 Sylvia Luigart, Bürgerschaftliches Engagement in der Geschichte der Versorgung psychisch kranker Menschen. Der "Hilfsverein für Nerven- und Gemütskranke in Württemberg" von seiner Gründung 1895 bis ins späte 20. Jahrhundert, Zwiefalten 2020.
6 Andrea Huppke, Global vernetzte Psychoanalyse. Die International Federation of Psychoanalytic Societies (IFPS) zwischen 1960 und 1980, Zwiefalten 2021.
7 Thomas Müller / Uta Kanis-Seyfried / Bernd Reichelt (Hrsg.), Psychiatrie und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten und in den angrenzenden Gebieten, Bd. 1, Zwiefalten 2022.
8https://dzok-ulm.de/bildungsangebote/language-matters/
9https://museum-laupheim.de/
10 Tagungsbericht: „Irrsinn“ in Oberschwaben. Historische Exkursionen von der Gründung staatlicher psychiatrischer Einrichtungen bis ins späte 20. Jahrhundert, 12.10.2019, Bad Schussenried, in: H-Soz-Kult, 04.12.2019, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8547 (07.10.2021).
11https://museele.de/
12http://www.forschung-bw.de/history/psychiatricmuseum.php?section=museum


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